Oder: Wie man Schlepperbanden bekämpft.
Wir, die Schweigende Mehrheit, haben heute nicht geschlafen. Unsere Seelen waren auf dem Mittelmeer, in einem Boot, das durch die Nacht trieb. Unsere Eltern und unsere Schwester waren auf diesem Boot. Um 6 Uhr 30 haben wir dann Frieden gefunden. Für diese Nacht, diesen Tag. Die Tränen, die uns über unsere Wangen liefen, haben uns in den Schlaf gewiegt.
Seit Tagen haben wir versucht, Wege zu finden diese Überfahrt in der Nacht zu verhindern und sind gescheitert.
Angefangen hat es für uns vor 2 Wochen. Angefangen hat es für viele andere schon vor vielen Jahren.
Vor zwei Wochen kam das syrische Brüderpaar, das bei einem von uns untergekommen ist, zu uns und sagte: „Sie sind jetzt auch geflohen.“
„Sie“, das sind ihre Eltern und ihre 21jährige Schwester.
Bis zuletzt hatte sich der Vater geweigert, sein Haus und seine Heimat zu verlassen. Bis vor zwei Wochen, als ein Luftangriff von Assads Armee das Nachbarhaus in die Luft gejagt hatte, weil dort eine Stellung des „Islamischen Staates“ vermutet wurde. Kein IS-Mörder wurde getötet.
Unter den sechs toten Zivilisten war ein Cousin unserer neuen Freunde, die wir vor sechs Wochen in Traiskirchen kennengelernt haben.
Der Vater lies sich nun endlich von seinen Söhnen überzeugen, auch seine geliebte Heimat zu verlassen. Ein befreundeter Arzt bescheinigte ihm eine Krankheit, die nur in der Türkei behandelt werden kann. Das ist notwendig, wenn man durch das vom IS kontrollierte Gebiet in die Türkei fliehen will.
Die Familie hinterlegte ein Pfand von 5000 Dollar bei der Stadtverwaltung des IS, das sie zurückbekämen, wenn sie zurückkehren würden. Ansonsten füllt es die Kriegskassen des Gottesstaates. Dann machten sich Mutter, Vater und Schwester auf den Weg in die Türkei.
Vier Tage Funkstille. Die Brüder in Wien schlafen kaum. Selbst mit der Überweisung in ein türkisches Krankenhaus, selbst mit bezahltem Pfand und offizieller Bewilligung ist man auf Leben und Tod der Willkür der IS-Kontrollen ausgesetzt. Für viele SyrerInnen endet ihre Flucht tödlich, noch vor der türkischen Grenze.
Dann, nach vier Tagen, strahlen die Brüder. Eltern und Schwester haben sich gemeldet, aus der Türkei!
Tage vergehen. Wir arbeiten an den Schutzbefohlenen von Jelinek, dann die Premiere. Wir sind froh, alles hat geklappt.
Am Abend danach sitzen wir zusammen. Einer der Brüder sagt uns, „Tomorrow in the night my parents and my sister will go on boat.“ Plötzlich ändert sich etwas.
Wir kennen die Bilder der überfüllten, schwimmenden Särge, der angespülten Körper, der orangen Schutzwesten, deren Inhalt Menschen mit starren, ausdruckslosen Blicken sind.
„No!“, sagen wir, „No please, tell them they should wait.“
Plötzlich will da jemand auf eines dieser Boote, den wir kennen, durch Erzählungen, von Bildern ihrer Söhne, von den Gesprächen in den heißen Sommernächten, in denen wir uns kennengelernt haben. Wir kennen das Gesicht der Schwester, die in der Nacht ihr Leben riskieren wird, um in Sicherheit weiterleben zu können. Plötzlich sind es auch unsere Eltern, ist es auch unsere Schwester.
„Tell them, they should wait only one more day: we try to find another solution!“
Wir rufen Asyl in Not an, Anwälte, Menschenrechtsanwälte, AsylexpertInnen. Alle bestätigen uns, was wir schon lange wissen: Dass es keine andere Möglichkeit gibt nach Europa zu kommen als mit den Schleppern.
Oder doch? Immerhin hat eine von uns vor ein paar Jahren einen verfolgten Kurden mit Verpflichtungserklärung eingeladen. Der bekam dann ein Touristenvisum und konnte schließlich mit dem Flugzeug einreisen, musste dann für ein paar Wochen nach Kroatien ausreisen, um wieder einzureisen und Asyl zu beantragen.
Wäre das eine Lösung? Eine von uns, die genug verdient, erklärt sich bereit, die Verpflichtungserklärung zu unterschreiben, dass sie alle Unkosten bezahlen wird, die die Familie in Österreich verursachen könnte. Wir organisieren eine Wohnung in Wien, in der sie unbefristet leben können.
Doch das Aussenministerium sagt uns, dass für SyrerInnen derzeit keine Touristenvisa ausgestellt werden, wenn sie nicht Geschäftsleute sind, die schon öfters ein- und auch wieder ausgereist sind.
Weil jeder weiß, dass die Syrer gar nicht zurück können.
Wir erklären dem freundlichen Herrn am Telefon die Situation, dass Vater, Mutter und Schwester sonst in dieses Schlepperboot steigen werden, weil sie doch gar keine andre Chance haben und dass sie, wenn sie überleben, doch dann eh hier bei uns in Österreich um Asyl ansuchen werden.
„Es wird kein Touristenvisum ausgestellt werden,“ sagt der freundliche Herr. „Es gab ein Kontingent von 500 Flüchtlingen aus Syrien, das ist schon voll. Sonst könnten sie noch in der Türkei sich beim UNHCR registrieren lassen und dort deponieren, dass sie nach Österreich wollen. Aber auch da sind die Chancen gering und es dauert Monate.“
Jeder weiß, dass zehntausende Syrer dieses Jahr kommen, um Asyl ansuchen und auch als Flüchtlinge anerkannt werden. Warum läßt man sie nicht in den Botschaften in Ankara und Beirut den Asylantrag stellen oder gibt ihnen Visa?
„Sie sagen uns also jetzt, dass die Leute aufs Schlepperboot steigen sollen und dann in den Tiefkühlwagen?“ fragen wir den freundlichen Herren vom Aussenministerium, der daraufhin gleich viel weniger freundlich ist. Das habe er nicht gesagt und so sei es nicht. Wir sollen im Innenministerium anrufen.
Die Zeit drängt, die Familie wartet jetzt schon drei Tage an der Küste der Türkei. Wir bitten die Brüder, den Eltern zu sagen, dass wir noch andere Wege versuchen und sie noch nicht in das Boot steigen sollen, aber auch dort in der Türkei geht ihnen das Geld aus und die Zeit drängt. Der ungarische Zaun ist vollendet, die Fluchtroute über Ungarn ist geschlossen.
Die Meldungen, dass es jetzt Fluchtkorridore über Serbien, Kroatien und Slowenien gibt, sind derweilen noch Gerüchte. Niemand weiß, wie lange es noch Breschen und Eingänge gibt in die Festung Europa.
Der Herr aus dem Aussenministerium ruft zurück. Es scheint ihm leid zu tun, dass er so unwirsch wurde. Wir sollen Bestätigungen besorgen, dass wir für die Unkosten der Familie aufkommen, dass wir eine Unterkunft für sie haben, dass sie nicht in die Grundversorgung aufgenommen werden müssen, dann stünden die Chancen vielleicht besser, dass sie als Spezialfall doch in irgend einem zukünftigen Kontingent berücksichtigt würden.
Wir versuchen einen Mitarbeiter von Innenministerin Mikl-Leitner zu erreichen, den wir bei unserem Besuch in der politischen Akademie der ÖVP am 15. August kennengelernt hatten und der uns seine Karte gegeben hatte für den Fall, dass wir Probleme hätten jemanden aus Traiskirchen heraus zu bekommen. Er wirkte damals sehr bemüht, ist jetzt aber den ganzen Tag mit der Frau Innenministerin unterwegs und meldet sich morgen.
Wir erklären, dass es morgen vielleicht zu spät ist, weil die Familie jenes syrischen Flüchtlings, der der Frau Ministerin die Wunschliste der Flüchtlinge aus Traiskirchen übergeben hat, und mit dem sie sich so freundlich unterhalten hat, jetzt gerade an der türkischen Küste steht und am Abend in dieses Boot steigen will, in eines dieses Schlepperboote, deren Bekämpfung doch ganz oben steht auf der To-Do-Liste der ÖVP.
Und nun erklärt man uns mehr oder weniger, dass die Familie unserer Freunde aufs Schlepperboot steigen soll, wenn sie in Österreich Schutz finden wollen?
Wir werden von einem anderen Beauftragten für Asylfragen des Innenministeriums zurückgerufen.
Er sagt uns wieder, das es ein Kontingent für Flüchtlinge aus Syrien gegeben hatte, das aber längst erfüllt sei. Er erklärt uns die Rechtslage, die EU-Verordnungen. Wir kennen sie eh alle.
Wir sagen ihm: „Aber da ist dieses Boot: Es ist eines von denen, die Sie verhindern wollen. Und da ist diese Familie und da sind Menschen in Österreich die Wohnraum und alles für sie organisiert haben. Und wenn sie das Boot überleben, werden sie eh herkommen und da bleiben. Warum müssen sie also auf das Boot? Können Sie nicht die österreichische Botschaft in Ankara anrufen oder das Konsulat in Istanbul?“
Er versteht uns, ist höflich, klingt nett, sagt uns, dass er uns menschlich verstehe, aber es gibt eben keinen anderen Weg gerade.
Auch er weist uns auf den UNHCR hin und auch er sagt, das es aber eigentlich eh keinen Sinn macht, sich dort registrieren zu lassen. Uns ist schlecht. Wir werden es nicht schaffen.
Dann rufen wir die Chefin der Abteilung für Visaangelegenheiten an. Vielleicht drückt sie ein Auge zu und stellt Touristenvisa aus und dann holen wir die Familie in Schwechat ab, fahren mit ihnen über die kroatische Grenze und warten bis sie wieder zurückkommen und über die österreichische Grenze gehen um hier in Österreich legal Asyl zu beanspruchen. Ein Menschenrecht, verdammt noch einmal.
Auch sie versteht uns menschlich, sagt sie, aber auch sie kann nicht menschlich handeln. „Ja“, sagt sie, „vor Jahren war es einfacher als man noch an den österreichischen Botschaften in Krisengebieten Asyl beantragen konnte!“
Als ob wir das nicht wissen würden.
„Aber ihr wollt doch die Schlepper bekämpfen!“ sagen wir, schreien wir. „Und jetzt müssen wir dem Vater, der Mutter und der Tochter unserer Freunde sagen, sie müssen auf dieses Boot steigen heute in der Nacht!“
Wieder die selbe Antwort: „Ich verstehe sie ja menschlich, aber …“
Wir lassen sie nicht mehr ausreden und sagen wütend und trotzdem höflich: „Danke trotzdem, dass sie sich die Zeit genommen haben.“
Die Frau sagt, „Es tut mir leid, wirklich es tut mir leid.“ Und dann sagt sie, „Viel Glück!“
Wir wagen es kaum, den Brüdern zu sagen, dass wir nichts tun konnten. Wir schämen uns.
„They have to go to the boat“
„I know“, sagt der Jüngere.
„There is no other way.“
Ihre Eltern und ihre Schwester sind heute früh auf einer griechischen Insel angekommen.
Die Überfahrt hat viel länger gedauert, als geplant. Die See war heftig.
„It was really dangerous, my baba told me.“
Jetzt sind sie auf dem Weg nach Österreich.
Was wäre gewesen, wenn nicht? Was, wenn auf dem nicht ungefährlichen Weg durch die ehemaligen jugoslawischen Kriegsgebiete noch etwas passiert?
So zwingt unsere Politik die Menschen auf die zu kleinen Boote und in die überfüllten LKWs anstatt Botschaften zu öffnen und legale Fluchtwege zu ermöglichen.
So gibt es das Asylrecht nur für die Starken und die Glücklichen, für die, die an einen korrekten Fluchthelfer geraten und nicht an einen betrügerischen oder skrupellosen Profiteur des Elends der anderen.
Heute weinen wir vor Glück, weil 3 Menschen, die wir kennen, weil unsere Mutter, unser Vater und unsere Schwester es geschafft haben, einen weiteren Zaun in Richtung Frieden zu überwinden.
Aber:
„Viele kommen gar nicht erst an“, heißt es bei Jelinek.